Naturschutzverbände entsetzt über Kahlschlag: In zwei Stunden fallen 120 Streuobstbäume

27. November 2024 | Streuobst (BW), Artenschutz (BW), Biotopverbund (BW), BUND Baden-Württemberg (BW), Flächenschutz (BW), Flächenverbrauch (BW), Lebensräume, Naturoasen schützen (BW), Naturschutzpolitik (BW), Naturschutz, Kommunalpolitik (BW)

NABU und BUND: „Klares Foulspiel von Bürgermeister Walter“

120 Bäume hat Weil der Stadt binnen weniger Stunden auf einer geschützten Streuobstwiese fällen lassen.  (Fritz Mielert / BUND BW)

Stuttgart / Weil der Stadt. Mit Kettensägen und Baggern hat Weil der Stadt auf einer geschützten Streuobstwiese vergangenen Montag Fakten geschaffen: In den Morgenstunden wurden innerhalb von nicht einmal zwei Stunden 120 ökologisch wertvolle Streuobstbäume gefällt. Erst die Beschwerde der Naturschutzverbände beim Verwaltungsgerichtshof in Mannheim konnte das Motorsägen-Massaker kurzfristig stoppen und rettete die letzten 22 Bäume. Die Naturschützerinnen und Naturschützer sind entsetzt angesichts dieser Dreistigkeit: „Die Stadt wusste, dass wir diese Beschwerde beim Verwaltungsgerichtshof eingereicht haben. Statt auf die Entscheidung der obersten Richter von Baden-Württemberg zu warten, haben sie das kleine Zeitfenster von zwei Stunden am Montagmorgen ausgenutzt, um Fakten zu schaffen. Mit mehreren Baggern und Motorsägetrupps wurde Baum für Baum systematisch umgelegt, um in möglichst kurzer Zeit maximalen Schaden anzurichten. Das ist kein Fairplay und offenbart den mangelnden Respekt der Gemeinde vor dem Rechtsstaatlichkeitsprinzip und den berechtigten Interessen der Bürgerinnen und Bürger. Für uns ist klar, dass dieses Foulspiel Bürgermeister Walter zu verantworten hat. Dass die Untere Naturschutzbehörde die Rodungsgenehmigung erteilt hat, obwohl die ökologischen Gutachten für die Genehmigung bereits veraltet waren und der rechtskräftige Beschluss des Bebauungsplans noch ausstand, ist für uns der zweite Teil dieses Skandals“, betonen NABU und BUND.   

Trotz des Schutzes von Streuobstwiesen durch §33a des Landesnaturschutzgesetzes will die Stadt Weil der Stadt im Kreis Böblingen ein neues Stadtquartier ausgerechnet auf der Fläche bauen, die jetzt noch einen Lebensraum für zahlreiche Tier- und Pflanzenarten bietet. Darunter sind streng geschützte und seltene Arten der Roten Liste, wie Wendehals und Grünspecht. Auch Fledermäuse, Amphibien und holzbewohnende Käfer sind betroffen. Sie verlieren Quartiere, Jagdgebiete und Wanderkorridore, um Platz zu machen für Ein- und Mehrfamilienhäuser, ein Hotel, eine Kita und Einzelhandel auf der grünen Wiese. Selbst wenn im Verhältnis 1:2 neue Bäume gepflanzt werden wird es Jahrzehnte dauern, bis der Schaden, der hier angerichtet wurde, kompensiert ist.
 
Johannes Enssle, NABU-Landesvorsitzender: „Trotz aller Naturschutzbedenken ist in Weil der Stadt die Rodung von insgesamt 142 Streuobstbäumen beantragt und genehmigt worden. Es soll eine Fläche von fast zehn Fußballfeldern bebaut werden, inklusive europarechtlich geschützter Fauna-Flora-Habitat (FFH)-Flachlandmähwiesen. Und das, obwohl jüngst der Europäische Gerichtshof (EuGH) den besseren Schutz solcher Wiesen angemahnt hatte. So geht es nicht weiter, sonst wird es sehr teuer für Baden-Württemberg. Dass das Landratsamt Böblingen als Untere Naturschutzbehörde die Pläne der Stadt so leichtfertig absegnet und die Rodung sogar schon vor dem Satzungsbeschluss genehmigt hat, ist für uns mehr als irritierend.“

Sylvia Pilarsky-Grosch, BUND-Landesvorsitzende: „Die Stadt hat weder ihren Wohnraumbedarf ausreichend belegt, noch ihre Hausaufgaben bei der Innenentwicklung gemacht. Die Zerstörung dieses Biotops ist nicht zu rechtfertigen. Vor der Bebauung im Außenbereich muss Weil der Stadt die vielen Enkelgrundstücke erschließen und den hohen Leerstand an Wohnraum nutzen. Dass die Stadt das Neubaugebiet wie einen Keil in den Biotopverbund bauen will und seine Entwässerung in ein Naturschutzgebiet fließen soll, kommt erschwerend hinzu. Die Pläne gehören in die Tonne.“

Naturschutzverbände geben nicht auf

Für NABU und BUND handelt es sich beim Baugebiet Häugern Nord um einen besonders gravierenden Fall. Sie lehnen das Baugebiet strikt ab, denn die geplante Bebauung der Streuobstwiesen und Flachlandmähwiesen widerspricht nach ihrer Auffassung geltendem Naturschutzrecht. Die Untere Naturschutzbehörde des Landkreises Böblingen hat die Rodung der Streuobstwiese genehmigt, obwohl sie den ökologischen Wert des gesetzlich geschützten Lebensraums anerkennt. Auch die Ausnahmegenehmigung für die Zerstörung von FFH-Mähwiesen wurde bereits erteilt, während Deutschland vor wenigen Tagen wegen des mangelnden Schutzes dieser Art Wiesen vom EuGH verurteilt wurde. NABU und BUND haben sich juristischen Beistand geholt und werden vor Gericht klären lassen, was der Paragraph zum Schutz von Streuobstwiesen in Baden-Württemberg wirklich wert ist und ob Stadtentwicklung selbst in solch gravierenden Fällen Streuobst schlägt.

 

Hintergrund:

Die Kommunen im Land haben seit April 2023 121 Anträge auf Umwandlung, also Bebauung, von Streuobstwiesen gestellt (Stand 20.11.2024). Eine Prüfung der Naturschutzverbände ergab: In Summe sind rund 250.000 Quadratmeter Streuobstfläche mit 1.700 Bäumen bedroht. Rund 80 Prozent davon sind sehr schützenswerte Wiesen und sollten nicht bebaut werden. Trauriger Spitzenreiter beim Antragsstellen ist der Landkreis Böblingen mit elf Umwandlungsanträgen, zu denen auch „Häugern Nord“ gehört.

Die Naturschutzverbände NABU und BUND setzen sich mit eigenen Schutz- und Pflegemaßnahmen, mit Aktionen und in Gesprächen mit Verwaltung und Politik für den Erhalt der Streuobstwiesen im Land ein. Im Notfall gehen die Verbände auch gerichtliche Schritte, so wie in Weil der Stadt.

 

Geschützter Lebensraum vs. Wohnraum:

  • Die artenschutzrechtlichen Untersuchungen von 2016 zeigen, dass das Gebiet Häugern Nord Lebensraum für 46 Vogelarten bietet, darunter stark gefährdete wie Kuckuck und Wendehals. Acht streng geschützte Fledermausarten nutzen die Fläche. Amphibien, darunter Erdkröte, Grasfrosch und verschiedene Molcharten, dient sie als Wanderkorridor. Das Totholz im Streuobst ist geeignet für holzbewohnende Käfer wie Hirschkäfer, Großer und Marmorierter Goldkäfer und Buchenspießbock. Allerdings sind die Gutachten älter als fünf Jahre. Es ist üblich, dass Gutachten, die älter als fünf Jahre sind, vor einer Genehmigung gründlich aktualisiert werden. In Weil der Stadt geschah dies nur sehr oberflächlich. 
  • Das geplante Baugebiet „Häugern Nord“ umfasst 10,5 Hektar, davon betroffen sind 6,9 Hektar Streuobstwiese mit 142 teils ökologisch sehr wertvollen Bäumen. 2,8 Hektar nach EU-Recht streng geschützte FFH-Flachlandmähwiesen sollen ebenfalls bebaut werden.
  • Das neue Wohngebiet soll für bis zu 1.000 Menschen Wohnraum schaffen. Aktuell hat Weil der Stadt 19.500 Einwohner/-innen. Der Zensus 2022 ergab, dass in Weil der Stadt 417 Wohnungen leer stehen, außerdem bieten weitere Baugebiete und baureife Grundstücke im Innenbereich Möglichkeiten, den gebrauchten bezahlbaren und barrierefreien Wohnraum zu schaffen.

 

Kontakt für Rückfragen:

  • Johannes Enssle, NABU-Landesvorsitzender, mobil: 0176 43 85 95 64
  • Sylvia Pilarsky-Grosch, BUND-Landesvorsitzende, mobil: 0172 834 42 94

 

Pressefotos und Videos der gefällten Bäume und der Protestaktion vor Ort finden Sie unter dem Link https://next.nabu-bw.de/s/GWxJodKQonpQb6j.

 

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